Vorstellungsgespräch
Fahre durch ein deutsches Gewerbegebiet irgendeiner deutschen Großstadt. Aneinandergereihte Gesichts- und geschichtslose Fassaden; Profanarchitektur des Schreckens. Bevor ich auf mein Fahrrad steigen kann, muss ich eine provisorische Fussgängerbrücke aus Gerüststahlrohren und Platten überqueren. Immerhin scheint die Sonne. Menschen sieht man in dieser Ansammlung von Betonsünden nur wenige. Ab und zu rauscht eine Tram vorbei. Oder Kleintransporter diverser Handwerkerbetriebe und Logistikunternehmen. Aus dem Boden gestampfte mehrstöckige Wohnhäuser warten noch auf ihre künftigen Insassen. Formatierte Wohneinheiten am Reißbrett entworfen bzw. hingeworfen. Aber vielleicht ist das auch alles nur Geschmackssache und Ästhetik bleibt halt angesichts der Wohnungsnot auf der Strecke. Immer noch wollen so viele Menschen in diese Großstadt, dass ihre Wachstumsschmerzen überall zu spüren sind. Hässliche Häuser, bemitleidenswerter Beton, aseptische Architektur. Und Verkehr. Überall dieser Verkehr. Obwohl:Hier wohnen noch nicht viele, deshalb ist es noch relativ leer. Vielleicht müssen erst die Menschen dieses Viertel zum Leben erwecken. Fragt sich nur, ob das zwischen dieser Anti-Architektur möglich ist. Vielleicht bin ich auch zu schnell an den Gebäuden vorbeigefahren, um liebevolle Details zu erkennen. Vielleicht hätte ich mich mal genauer umsehen sollen, aber diese Stadtlandschaft wirkte nicht einladend. Hier scheint nichts organisch gewachsen, alles Ergebnis stadtplanerischer Nüchternheit. Zu wenig Wildwuchs in allerlei Hinsicht. Ich bin tatsächlich noch pünktlich, als ich mein Ziel erreiche. Ich betrete den Eingangsbereich eines älteren Bürgebäudes und sehe gleich einen dieser Aufsteller. Eine Frau, die mich anlächelt, ist abgebildet und ich lese den Spruch: „Wir bringen Menschen ans Ziel“ Ok, denke ich, suchen die Busfahrer, Zugführer, Piloten? Aber es stimmt ja doch irgendwie. Mich haben sie heute jedenfalls dazu gebracht, ein Ziel anzusteuern, welches ich gar nicht erreichen wollte. Ich fühlte mich kurz fremdgesteuert und dann dachte ich nur: Spiele ich halt das Spiel erstmal mit. Die Menschen in ihren Büros, vor ihren Rechnern, auf ihren Drehstühlen, neben ihren vertrockneten Zimmerpflanzen, vor ihren geschmacklosen Wanddekorationen, auf ihrem traurigen Auslegwarengrau; vielleicht freuen die sich über Besuch. Ein Mensch, ein Wesen, wie ich und Du und es spricht! Doch auch hier muss erst die Hürde der Formalitäten genommen werden. Ist ja ein Vorstellungsgespräch und kein Kneipenbesuch. Also kritzel ich erstmal meine Daten auf ein Formular, bevor es dann zum Gespräch kommt. Auch das verläuft wenig überraschend und dauert nur 20 Minuten. Ich verabschiede mich, ohne Handschlag natürlich, aber mit einer Visitenkarte in der Tasche. Auch so ein Relikt aus alten Zeiten. Visitenkarten! Ich erinnere mich noch, wie ich für meinen Vater mal Visitenkarten an meinem alten Amiga 500 entworfen habe. Es dauerte ewig, bis ich irgendwas in Dunkelblau und mit einem Kfz-Symbol drauf fertig hatte. Aber Visitenkarten sind für mich ein anachronistisches Druckerzeugnis. Andererseits können sie natürlich nützlich sein, vorrausgesetzt man hat genug davon. Zum Beispiel als Brennmaterial für den bevorstehenden Energiekrisen-Winter. Wohl dem, der alle Visitenkarten aufgehoben hat, die er jemals bekommen hat. Aber ich schweife ab. Ich verlasse also mit kleinformatiger, bedruckter Pappe das Bürogebäude und sehe auf dem Parkplatz großformatige bedruckte SUV‘s mit der Aufschrift der Firma (eine Visitenkarte auf Rädern, sozusagen), bei der ich gerade vorstellig geworden war. Andere für sich arbeiten lassen, das ist immer noch ein lukratives Geschäft, denke ich und überwinde kurz darauf den akuten Anfall von Subversion. Oder war es nur Neid als Kritik getarnt? Ich steige auf mein Rad und fahre den gleichen Weg wieder zurück. Neben einer Kreuzung auf einer großen Brachfläche steht ein Hinweisschild „Landschaftsschutzgebiet“. Welche Landschaft? Sandiger Boden mit sehr viel Unkraut. „Landschaftsschmutzgebiet“ trifft es besser. Auf dem Platz vor der provisorischen Brücke sehe ich zwei Männer in verblasster grüner Arbeitskleidung. Einer der Männer verschneidet einen Busch, während sein Kollege sich grad eine Zigarette vors Trinkergesicht hält. Ich trage mein Fahrrad die Treppen hoch und erreiche sogar noch die eigefahrene Bahn.